„ Halbe Vorfahrt “ bei einem Unfall ist eine Situation, die gar nicht so selten ist.
halbe Vorfahrt – typische Unfallsituation:
Das von RA Reissenberger erwirkte Urteil vor dem AG Dortmund zum Thema „halbe Vorfahrt“ handelt daher von einer typischen Unfallsituation.
halbe Vorfahrt – Sachverhalt und Erläuterung:
Der Unfallsituation „ halbe Vorfahrt“ liegt folgender Gedanke zugrunde: An einer umbeschilderten Kreuzung im Stadtgebiet mit der Regelung „rechts-vor-links“ nähern sich von zwei Seiten jeweils ein Pkw, die beide geradeaus fahren wollen. Es kommt zum Unfall in der Kreuzungsmitte. Die Haftpflichtversicherung des von links kommenden Pkw verweigerte die vollständige Regulierung mit der Behauptung, der von rechts kommenden Pkw habe nur eine „ halbe Vorfahrt “ gehabt und gegen den Grundsatz „ halbe Vorfahrt “ § 3 Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen, weil er an einer unübersichtlichen Stelle ( nur „ halbe Vorfahrt “) zu schnell gefahren sei, denn er hätte die Vorfahrt eines potentiellen Pkw (die andere „ halbe Vorfahrt “), der für ihn von rechts hätte kommen können, beachten müssen und aus diesem Grunde langsamer in die Kreuzung hineinfahren müssen. Der Kläger und Mandant von Anwalt Reissenberger habe deshalb nur eine „ halbe Vorfahrt “ gehabt, keine „volle Vorfahrt“, so dass er 1/3 Mitverschulden an dem Unfall zu tragen habe, so der Vortrag der Versicherung. Der Kläger hat das Vorliegen einer Situation „ halbe Vorfahrt “ vollständig bestritten. Das Gericht hat die Unfallparteien angehört, um herauszufinden, ob wirklich eine Unfallsituation „ halbe Vorfahrt “ bestand. Das Gericht hat letztlich nach der Anhörung der Parteien die Unfallsituation „ halbe Vorfahrt “ verneint und statt dessen nach den Grundsätzen des Beweises des ersten Anscheins gleichwohl unter Verneinung des Grundsatzes „ halbe Vorfahrt “ die Verantwortlichkeit für den Verkehrsunfall allein dem von links kommenden Pkw zugesprochen und die Versicherung daher voll verurteilt.
halbe Vorfahrt – Urteil AG Dortmund:
AG Dortmund,
AZ.: 408 C 10880/12,
verkündet am 10.07.2013
Amtsgericht Dortmund
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Rechtsstreit
des Herrn …
Klägers,
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Reissenberger, Ostenhellweg 53, 44135 Dortmund,
gegen
1. die .. Versicherung AG … Köln, gesetzlich vertreten durch …, Köln,
2. Herrn … Dortmund,
Beklagten,
Prozessbevollmächtigte zu 1und 2: Rechtsanwälte…
hat das Amtsgericht Dortmund
auf die mündliche Verhandlung vom 26.06.2013
durch die Richterin Stumm
für Recht erkannt:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 592,47 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 02.05.2012 sowie weitere 48,73 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 06.06.2012 an die Allrecht Rechtsschutzversicherung zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand (Urteil halbe Vorfahrt):
Von der Wiedergabe des Tatbestandes wird gemäß § 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
Entscheidungsgründe (Urteil halbe Vorfahrt):
Die zulässige Klage ist begründet.
Die grundsätzliche Haftung des Beklagten zu 2) als Halter und Fahrer des unfallbeteiligten Pkws und der Beklagten zu 1) als Haftpflichtversicherer dieses Fahrzeugs ergibt sich aus §§ 7 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Nr. 1, 116 Abs. 1 VVG. Denn die Schäden sind bei dem Betrieb des vom Beklagten zu 2) gefahrenen Kraftfahrzeugs entstanden, und es liegt keine Verursachung durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG vor.
Aber auch der Kläger als Fahrer und Halter seines unfallbeteiligten Kraftfahrzeugs haftet grundsätzlich gemäß § 7 Abs. 1 StVG für die Unfallfolgen, da auch insoweit keine Verursachung durch höhere Gewalt in Betracht kommt.
Da sich der streitgegenständliche Unfall für keinen der Unfallbeteiligten als unabwendbares Ereignis darstellt, richtet sich der Umfang der Haftung danach, inwieweit der Unfall vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist (§ 17 StVG).
Für das Maß der Verursachung ist ausschlaggebend, mit welchem Grad von Wahrscheinlichkeit ein Umstand allgemein geeignet ist, Schäden der vorliegenden Art herbeizuführen. Hierbei richtet sich die Schadensverteilung auch nach dem Grad eines etwigen Verschuldens eines Beteiligten.
Die Anwendung dieser Grundsätze führt hier zu einer Alleinhaftung der Beklagten.
Denn den Beklagten zu 2) belastet neben der Betriebsgefahr sein unfallursächliches Verhalten, weil er unter Verstoß gegen § 8 Abs. 1 Satz 1 StVO die Vorfahrt des von rechts kommenden Klägers missachtet hat. Die Vorfahrt ist an der Unfallstelle für Fahrzeuge, die aus Fahrtrichtung des Beklagten zu 2) kommen, in dem Einmündungsbereich nicht geregelt, so dass der Grundsatz „rechts vor links“ gilt.
Die Schuldhaftigkeit steht fest auf Grund der Regeln über den Beweis des ersten Anscheins. Der Beweis des ersten Anscheins setzt einen typischen Geschehensablauf voraus, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist. Die Gesamtgestaltung des Falles muss so sein, dass sich aus der Erfahrung des Lebens der gezogene Schluss ohne weiteres aufdrängt (vgl. BGH NJW 1951, 360).
Stoßen – wie im vorliegenden Fall – Fahrzeuge im Kreuzungsbereich zusammen, so spricht die Lebenserfahrung dafür, dass dies auf einer Unaufmerksamkeit des wartepflichtigen Fahrers zurückzuführen ist (vlg. BGH VersR 1958, 271). Der Vorfahrtberechtigte soll nach dem Sinn der Vorfahrtregelung grundsätzlich das Vertrauen auf die Vorfahrt haben, während vom Wartepflichtigen verlangt wird, dass er mit Misstrauen an die Kreuzung heranfährt und im Zweifel zu warten hat (vgl. für „volle“ Vorfahrt: BGHZ 14, 232).
Das Gericht kann hingegen nicht davon ausgehen, dass den Kläger ein unfallursächlicher Verkehrsverstoß trifft.
So behaupten die Beklagten auch nicht etwa, dass der Kläger zu schnell gefahren sei.
Eine Mithaftung des Klägers ergibt sich vorliegend auch nicht nach den Grundsätzen der halben Vorfahrt.
Ist die Vorfahrt an einer Kreuzung nicht besonders geregelt, so stellt sich für jeden Verkehrsteilnehmer, der sich dieser Kreuzung nähert, die Verkehrslage so dar, dass er zwar gegenüber dem von links kommenden vorfahrtberechtigt, gegenüber Verkehrsteilnehmer von rechts aber wartepflichtig ist. Um deren Vorfahrt beachten zu können, muss er deshalb, wie es § 8 Abs. 2 S. 1 StVO ausdrücklich bestimmt, mit mäßiger Geschwindigkeit an die Kreuzung heranfahren und sich darauf einstellen, dass er notfalls rechtzeitig anhalten kann, um die ihm gegenüber Vorfahrtberechtigten durchfahren zu lassen. Dabei kann die Verpflichtung des Bevorrechtigten, seine Fahrgeschwindigkeit soweit zu vermindern, dass er ihm gegenüber bevorrechtigte Fahrzeuge vorbeilassen kann, auch Auswirkungen auf sein Verhältnis zum Wartepflichtigen haben. Andernfalls verstößt er nämlich grundsätzlich diesem gegenüber gegen § 3 Abs. 1 S. 2 StVO, weil er an einer unübersichtlichen Stelle zu schnell gefahren ist. Diese Vorschrift verfolgt ganz allgemein den Zweck, Zusammenstöße an gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen, wie sie Kreuzungen ohne ausreichende Sicht auf die einmündenden Straßen immer darstellen, zu verhindern; sie dient damit auch dem Schutz des an sich wartepflichtigen, jeweils von links kommenden Verkehrsteilnehmers ( vgl. BGH VersR 1977, 917). Eine schlecht einsehbare Kreuzung, an der die Vorfahrt nicht besonders geregelt ist, ist stets eine unübersichtliche und gefährliche Straßenstelle, deren besonderen Bedingungen der Fahrzeugführer seine Fahrgeschwindigkeit anzupassen hat (§ 3 Abs. 1 S. 2 StVO).
Demgegenüber gilt der Vetrauensgrundsatz, der es dem Vorfahrtberechtigten gestattet, mit der örtlich zulässigen Geschwindigkeit „auf Sicht“ zu fahren, ohne auf die immer möglichen Verletzungen seiner Vorfahrt durch für ihn nicht sichtbare Wartepflichtige Bedacht zu nehmen, an derartigen Kreuzungen nicht uneingeschränkt. Zwar braucht der „halb Vorfahrtberechtigte“ nicht die ihm gegenüber Wartepflichtigen, von links kommenden Verkehrsteilnehmer zu beobachten, sondern kann sein Augenmerk bei Annäherung an die Kreuzung allein auf den ihm gegenüber bevorechtigten Verkehr von rechts richten; kann er die für ihn von rechts einmündende Straße rechtzeitig und weit genug einsehen, so ist die Lage aber für ihn ähnlich übersichtlich, wie wenn er eine Vorfahrtstaße befährt, so dass er auf die Beachtung seines Vorfahrtrechts ohne Verringerung der zulässigen Geschwindigkeit vertrauen kann. Dies liegt nur anders, wenn er seinerseits wegen der schlechten Einsehbarkeit der Kreuzung von rechts nur langsam an sie heranfahren darf. An solchen Kreuzungen vertraut auch der jeweils von links kommende Verkehrsteilnehmer darauf, dass sich der ihm gegenüber Bevorrechtigte verkehrsgerecht verhält und mit mäßiger Geschwindigkeit fährt, die ihm die Beachtung seiner Verpflichtungen nach rechts hin ermöglicht. Er wird sich in seiner Fahrweise darauf einstellen.
Zwar sind vorliegend an der betreffenden Kreuzung die jeweils querenden Straßen von allen Seiten nur schwer einsehbar. Die Sicht des Klägers nach rechts hin war jedoch frei und nicht durch parkende Fahrzeuge behindert.
Der Kläger durfte daher auf die Beachtung seines Vorfahrtsrecht durch den Beklagten zu 2) vertrauen.
Der Beklagte zu 2) hat demgegenüber im Rahmen seiner persönlichen Anhörung nach § 141 ZPO geschildert, dass er seine Geschwindigkeit nicht verringert habe, sondern mit 30 km/h über die Kreuzung gefahren sei. Dabei habe er den Kläger von rechts kommend gesehen diesen aber noch für so weit weg gehalten, dass er dachte, er könnte es noch vorher über die Kreuzung schaffen.
Dass es dann doch zum Unfall gekommen ist, ist allein dem Beklagten zu 2) anzulasten, da er sich bei seiner Entscheidung augenscheinlich verschätzt hat.
Zwar ist zuzugeben, dass der Kläger mit dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) hinten rechts kollidierte. Dass der Kläger das Fahrzeug des Beklagten zu 2) erst so spät wahrgenommen hat, mag jedoch dem Umstand geschuldet sein, dass er – wie er im Rahmen seiner persönlichen Anhörung schilderte – zunächst nach links und dann nach rechts geschaut hat. Im Übrigen war der Blick des Klägers nach links durch einen Transporter versperrt, was es als unmöglich erscheinen lässt, dass sich der Beklagte zu 2) in dem Moment als der Kläger nach links geschaut hat hinter dem Transporter befunden hat.
Aufgrund des schwerwiegenden Verschuldens des Beklagten zu 2) tritt auch die Betriebsgefahr des Klägers zurück.
Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedurfte es insoweit nicht mehr. Die Beklagten haben dem Kläger daher auch die restlichen 30 % des entstandenen Schadens zu ersetzen.
Der Einwand der Beklagten, dass der Kläger hinsichtlich der Sachverständigenkosten nicht aktivlegitimiert sei, geht schon deshalb ins Leere las die Sachverständigenkosten schon vorgerichtlich in Gänze ausgeglichen wurden.
Der Zinsanspruch sowie der Anspruch auf Erstattung der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich aus dem Gesichtspunkt des Verzuges (§§ 280 Abs. 1,2, 286 BGB), nachdem der Kläger die Beklagte zu 1) mit anwaltlichem Schreiben vom 21.04.2011 erfolglos zur Zahlung augefordert hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 11, 711, 713 ZPO.
Die Berufung war nicht zuzulassen, weil der Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Anrufung des Berufungsgerichts auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtssprechung oder zur Fortbildung des Rechts erforderlich ist, § 511 Abs. 4 S. 1 ZPO.
Der Streitwert wird auf 592,47 Euro festgesetzt.
Stumm
Ausgefertigt
Schulz, Justizbeschäftigte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle