Berufsunfähigkeit – Allgemeines:
Die Berufsunfähigkeit ist für viele Erwerbstätige ein wichtiges Thema.
Sie wird allgemein aber auch im hier in Rede stehenden Vertrag und im nachstehenden Urteil wie folgt definiert:
„Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – nachzugehen und in dieser Zeit auch keine andere Tätigkeit ausübt, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.“
Obwohl der Mandant spätestens seit Februar 2017 an einer chronischen, medikamentös nicht bzw. kaum beeinflussbaren Enge der zentrale Atemwege litt und dies ärztlich festgstellt wurde, weigerte sich die Versicherung zu zahlen. Sie ist deshalb am Wohnort des Mandanten in Dortmund verklagt worden. Nach durchgeführter Beweisaufnahme durch Anhöhrung von Zeugen sowie eines Gutachters wurde die Versicherung verurteilt. Davon handelt das nachstehende Urteil.
Berufsunfähigkeit-Urteil:
2 O 305/19
Landgericht Dortmund
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
In dem Rechtsstreit
des Herrn … Dortmund,
Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt Reissenberger, Schwanenwall 8-10, 44135 Dortmund,
gegen
die … Lebensversicherung AG, gesetz. vertr. d. d. Vorstand, dieser vertr. d. d. Vorstandsmitglieder …,
Beklagte,
Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwältev. …,
hat die 2. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund
auf die mündliche Verhandlung vom 22.09.2022
durch den Vorsitzenden Richter am Landgericht … als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 35.783,46 € (in Worten: fünfunddreißigtausendsiebenhundertdreiundachtzig 46/100 Euro) nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit dem 20. Mai 2020 zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zur Versicherungsscheinnummer … ab 01.04.2020 beitragsfrei zu stellen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zur Versicherungsscheinnummer … zum Versicherungsschein vom 14.03.2016 verpflichtet ist, dem Kläger ab 01.04.2020 längstens bis zum 01.12.2035 eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 901,67 € zu zahlen, und zwar im Voraus zu jedem 1. eines Monats.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des vollstreckbaren Betrages.
Tatbestand (Berufsunfägkeit):
Der am 09.12.1975 geborene Kläger unterhielt bei der Beklagten seit dem 01.06.2005 eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Grundlage war der Versicherungsschein vom 09.06.2005 (Anlagen K1 und B1). Vereinbart wurde ab 01.03.2016 eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 901,67 €, ein monatlicher Beitrag in Höhe von 40,00 € und eine Laufzeit bis zum 01.12.2035. Grundlage waren das Schreiben des Klägers vom 28.01.2016 (Anlage B6), der Versicherungsschein vom 14.03.2016 (Anlage K2 und B7) und die Versicherungsbedingungen nebst Tarifbedingungen (Anlage B2) u. a. mit folgenden Regelungen:
„§ 2 Was ist Berufsunfähigkeit im Sinne dieser Bedingungen?
(1) Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – nachzugehen und in dieser Zeit auch keine andere Tätigkeit ausübt, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht (vgl. Abs. 4). Auf die abstrakte Verweisung verzichten wir.
Tarifbedingungen …
§ 1 Was ist versichert?
(1) Wird die versicherte Person während der Versicherungsdauer dieser
Versicherung zu mindestens folgende Versicherungsleistung:
50 % berufsunfähig, so erbringen wir
Zahlung einer Berufungsunfähigkeits-Rente längstens für die vereinbarte Versicherungsdauer ….
von der Beitragszahlungspflicht werden Sie befreit. ….“
Unter dem 01.03.2018 (Anlage B9) stellte der Kläger einen formularmäßigen Antrag auf Leistungen wegen Berufsunfähigkeit. Nach Einholung von Gutachten / Stellungnahmen der Internistin Dr. … vom 17.09.2018 (Anlagen K14 und B10), vom 22.10.2018 (Anlage B11) und vom 25.04.2018 (Anlage B14) lehnte die Beklagte ihre Leistungspflicht mit Schreiben vom 09.11.2018 (Anlage K12 und B12) und vom 13.05.2019 (Anlage B15) ab. Mit der vorliegenden Klage begehrte der Kläger die Zahlung der vereinbarten Rente und Beitragsrückerstattung/ Freistellung ab Februar 2017.
Er behauptet unter Bezugnahme auf die ärztlichen Berichte / Gutachten (Anlagen K3 bis K 11 und K18), dass er infolge einer schwergradigen Tracheobronchitis durch Mycoplasma Pneumonie und Chlamydianeumonie Mundsoor eine ausgeprägte tracheobronchiale Instabilität hyperreagibles Bronchialsystem, Asthmabronchiale, nächtliche Aspiration bei Kardiainsuffizienz, Refluxösophagitis, obstruktives Schlafapnoesyndrom, obstruktive Atemwegserkrankung (COPD Stadium II), chronische Polychonddritis, Dyspnoe und produktivem Husten, bronchiale Hyperreagibilität, Ployposis der Nasennebenhöhlen seit Februar 2017 zu mehr als 80% außerstande sei, seine zuletzt bis 31.12.2016 ausgeübte Berufstätigkeit als Filialleiter eines Sportgeschäfts mit den in der Anlage K15 und im Schriftsatz vom 03.03.2020 (Blatt 49 bis 52 der Akten) dargestellten streitigen Tätigkeiten mit 70 bis 80 % Verkaufstätigkeit (Kundenkontakt) auszuüben.
(Die Klageanträge)
Der Kläger beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn, den Kläger, 35.783,46 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass er, der Kläger, aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zur Versicherungsscheinnummer … zukünftig nicht mehr verpflichtet ist, der Beklagten seit dem 1. April 2020 40,00 € als monatliche Prämie zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus der Berufungsunfähigkeitszusatzversicherung zur Versicherungsscheinnummer … zum Versicherungsschein vom 09.06.2005 verpflichtet ist, dem Kläger die entsprechenden Berufsunfähigkeitsleistungen monatlich ab dem 01.04.2020 im Voraus zu jedem 1. eines Monats zu erbringen, zurzeit in Höhe einer Zahlung von monatlich 901,67 €.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen … und … sowie durch Einholung eines Sachverständigengutachtens und den Kläger angehört.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Protokolle der Sitzungen vom 29.10.2020 und 22.09.2022 und das schriftliche Gutachten von Prof. Dr. … vom 8. März 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe (Berufsunfägkeit):
Die gem. § 256 ZPO zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen versicherungsvertraglichen Anspruch auf Zahlung der vereinbarten monatlichen Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von unstreitig 901,67 € ab Februar 2017, einen bereicherungsrechtlichen Anspruch gem. § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB auf Rückzahlung der in dem Zeitraum Februar 2017 bis März 2020 unstreitig gezahlten Versicherungsbeiträge in Höhe von unstreitig 40,00 € und einen versicherungsvertraglichen Anspruch auf Beitragsfreistellung ab April 2020.
(Die Zulässigkeit der Klagen- Berufsunfägkeit):
Die Feststellungsklagen für den Zeitraum ab April 2017 sind gem. § 256 ZPO zulässig. Das Feststellungsinteresse ist trotz einer möglichen Leistungsklage auf zukünftige/wiederkehrende Leistungen nach §§ 257 und 258 ZPO zu bejahen, weil zu erwarten ist, dass die Beklagte bereits auf das Feststellungsurteil hin leisten wird (Zöller, ZPO, 34. Auflage, § 256 Rd. 8). Die Höhe der Versicherungsleistungen ist nicht streitig.
(Die Tatbestandsvoraussetzungen- Berufsunfägkeit):
Zwischen den Parteien besteht seit dem 01.03.2016 eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit den vorgenannten vereinbarten Versicherungsleistungen (Anlagen B6 und B7).
Der Versicherungsfall ist ab Februar 2017 eingetreten.
Nach § 1 der Tarifbedingungen zahlt die Beklagte die vereinbarte Berufsunfähigkeitsrente längstens für die vereinbarte Versicherungsdauer und befreit den Versicherungsnehmer von der Beitragspflicht, wenn die versicherte Person, vorliegend also der Kläger, während der Versicherungsdauer zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Vollständige Berufsunfähigkeit liegt nach § 2 der Versicherungsbedingungen vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt ausgeübten Beruf – so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war – nachzugehen und in dieser Zeit auch keine andere Tätigkeit ausübt, die aufgrund ihrer Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
Der Versicherungsnehmer, also der Kläger, hat im Hinblick auf den Eintritt der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit den Vollbeweis zu erbringen. Er muss darlegen und beweisen, dass er seinen bisherigen konkreten Beruf zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr ausüben konnte (Riecher, in Beckmann/Matuschke-Beckmann, Versicherungsrechtshandbuch, 3. Auflage, § 46 Rd. 143 und 147).
Diesen Beweis hat der Kläger zur Überzeugung der Kammer geführt.
Gem. § 286 Abs. 1 ZPO ist eine Tatsache als bewiesen anzusehen, wenn sich das Gericht über deren Richtigkeit einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit verschaffen konnte, der Zweifeln Schweigen gebietet ohne die völlig auszuschließen (Zöller, ZPO, § 286 Rd. 19, BGH IV ZR 116/11, Beschluss vom 18.11.2012, Versicherungsrecht 2012, 849).
Aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers, sowie der glaubhaften Aussagen der glaubwürdigen Zeugen … und … steht die von dem Kläger behauptete Ausgestaltung seiner Tätigkeit als Filialleiter eines Sportgeschäftes fest. Plausibel und detailreich dargelegt. Die Zeugen haben die Angaben des Klägers überzeugend bestätigt.
Nach dem nachvollziehbaren und überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. … leidet der Kläger spätestens seit Februar an einer chronischen, medikamentös nicht bzw. kaum beeinflussbaren Enge der zentrale Atemwege. Diese Beeinträchtigung war objektiv messbar und steht zweifelsfrei fest aufgrund der im Mai 2017 und Januar 2018 durchgeführten Lungenfunktionsprüfungen mittels Trachealstenoseprogramm und einem Anstieg des Atemwiderstandes von 0,56 kPa*s/L auf 0,91 kPa*s/L, was einer schweren Einschränkung, vergleichbar mit einem schwergradig persistierenden Asthma bzw. einer schweren COPD (Schwergradeinteilung III ) entspricht.
Die Lungenfunktionsbeeinträchtigung hat zur Folge, dass die körperliche Belastungsfähigkeit des Klägers eingeschränkt ist, der Kläger schnell in Atemnot gerät und die Interaktion bei einem Kundengespräch durch Hustenreiz und die damit einhergehende Sekretabsonderung beeinträchtigt ist.
Dies führt dazu, dass der Kläger zu mehr als 50 % dauerhaft außerstande ist, seinen Beruf als Filialleiter in einem Sportartikelgeschäft auszuüben. Für die Bemessung des Grades der Berufsunfähigkeit darf nicht nur auf den Zeitanteil einer einzelnen Tätigkeit abgestellt werden, die der Versicherungsnehmer nicht mehr ausüben kann, wenn diese untrennbarer Bestandteil eines beruflichen Gesamtvorganges ist (BGH IV ZR 535/15, Urteil vom 19.07.2017).
Der Kläger ist nicht in der Lage, Kundengespräche unbeeinträchtigt von Atemnot und Hustenreiz zu führen und damit einen erheblichen Teil seiner Berufstätigkeit auszuüben. Eine genau zeitliche Eingrenzung der Berufstätigkeit, die der Kläger nicht mehr ausüben kann, ist zwar nicht feststellbar, nach den oben gesagten (BGH IV ZR 535/15) aber auch nicht erforderlich.
Die Ursache der Erkrankung ist nicht entscheidungserheblich, weil es für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit allein auf die Ausprägung / Auswirkung der Krankheitssymptome ankommt (Rixecker in Versicherungsrechthandbuch, § 46 Rd. 147).
Eine persönliche Untersuchung des Klägers durch den Sachverständigen zur Beantwortung der streitigen Berufsunfähigkeit des Klägers war nicht erforderlich/notwendig. Wesentliche gesundheitliche einschränkende des Klägers ist die Beeinträchtigung des zentralen Atemweges. Diese Beeinträchtigung ist objektiv messbar durch die in der Vergangenheit durchgeführten Lungenfunktionsprüfungen mittels Tracheatstenoseprogramm. Bei diesen Untersuchungen wird der Atemwegswiderstand gemessen unabhängig von der Mitarbeit des Patienten. Werte, die kleiner 0,3 sind, bedeuten, dass er Patient gesund ist.
Festzuhalten bleibt damit, dass der Kläger bewiesen hat, dass der Versicherungsfall eingetreten ist und die Beklagte die vereinbarten Versicherungsleistungen ab Februar 2017 längstens bis zum Vertragsende am 01.12.2035 schuldet, für den konkret bezifferten Zeitraum bis März 2020 mithin 38 Monate mal (901,67 € Berufsunfähigkeitsrente plus 40,00 € Beitragsrückzahlung) gleich 35.783,46 €.
Der Zinsanspruch des Klägers folgt aus § 291 ZPO.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 ZPO und berücksichtigt, dass die Zuvielforderung des Klägers verhältnismäßig gering war und keine Mehrkosten verursacht hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
Der Streitwert beläuft sich auf 67.759,57 € und berechnet sich wie folgt:
35.783,46 € + (42 Monate mal 40,00 €)+ (42 Monate mal 901,67 €) – 20 % Feststellungsabschlag.