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Fahrspurwechsel, Urteil LG Dortmund

Allgemeines – Fahrspurwechsel:

Der Fahrspurwechsel im Straßenverkehr ist einer häufigsten Unfallursachen. Deswegen sieht das Gesetz in der Straßenverkehrsordnung (StVO) in § 7 Abs. 5 S. 1 StVO folgende Regelung vor:

„In allen Fällen darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.“

Man spricht insoweit von sogenannten „Kardinalpflichten“ eines Verkehrsteilnehmers. Wer gegen eine dieser Kardinalpflichten (andere sind beispielsweise das Zurücksetzen oder Wenden, § 9 Abs. 5 StVO, siehe auch die insoweit veröffentlichten Urteile) verstößt, der hat die Vermutung des Alleinverschuldens an der Unfallverursachung gegen sich sprechen. Dieser sog. „Beweis des ersten Anscheins“ führt regelmäßig zur Alleinhaftung des Fahrspurwechselnden. Wenn man nun denkt, die Sache sei einfach und klar, der lässt außer Acht, dass an einem Unfall regelmäßig zwei Verkehrsteilnehmer beteiligt sind und jeder denkt im Regelfall, er habe alles richtig gemacht. Insbesondere bei dem hier interessierenden Fahrspurwechsel behauptet die jeweils andere Seite häufig, nicht er sondern der andere habe den Fahrspurwechsel vorgenommen. Kann dies nicht aufgeklärt werden, kommt es zu einer Haftungsverteilung von 50 % zu 50 %. So hat es auch das Amtsgericht hier (zu Unrecht) angenommen und die Klage der hiesigen Mandantin in erster Instanz abgewiesen, nachdem ein vom Amtsgericht eingeholtes Sachverständigengutachten zu dem Ergebnis kam, es könne technisch nicht feststellen, wer den Fahrspurwechsel vorgenommen hat. Dies war deshalb unrichtig, weil das Amtsgericht die Beweislastregeln außer Acht ließ oder verkannte. Es hatte nämlich unberücksichtigt gelassen, dass eine Haftungsverteilung von 50 % zu 50 % dann nicht mehr in Betracht kommt, wenn ein Fahrspurwechsel juristisch unstreitig ist, also feststeht, weil eine Partei diesen eingeräumt hat, der andere Fahrspurwechsel aber streitig geblieben ist. Denn dann steht nur ein Fahrspurwechsel fest. Lediglich wenn zwei Fahrspurwechsel feststehen, heben sich die zuvor erwähnten wechselseitigen Vermutungen des ersten Anscheins eines Alleinverschuldens auf. Steht wie hier nur ein Fahrspurwechsel fest, konnte die andere Partei nicht beweisen, dass in diesem Fall die Klägerin auch einen Fahrspurwechsel begangen hat. Das Amtsgericht hielt jedoch wegen der technischen Unaufklärbarkeit den Unfall auch rechtlich für unaufklärbar, und das war unrichtig. Es hätte die Beklagtenseite vollumfänglich wegen des von ihr eingeräumten Fahrspurwechsels verurteilen müssen. Da das unterblieb, hat das Landgericht diesen Fehler korrigiert, das Urteil aufgehoben und die Beklagten verurteilt.

Das Berufungsurteil des Landgerichts Dortmund – Fahrspurwechsel: 

 

 

Aktenzeichen:

11 S 118/21 

405 C 2461/19 Amtsgericht Dortmund 

 

 

Landgericht Dortmund 

IM NAMEN DES VOLKES 

Urteil 

 

In dem Rechtsstreit

der Frau … Dortmund,

Klägerin und Berufungsklägerin, 

Prozessbevollmächtigter: 

Herr Rechtsanwalt Reissenberger, Schwanenwall 8 – 10, 44135 Dortmund, 

gegen … Versicherung AG, vertr. d. d. Vorstand …

Beklagten und Berufungsbeklagten, 

Prozessbevollmächtigte zu 1-3: Rechtsanwälte … , 

 

hat die 11. Zivilkammer des Landgerichts Dortmund

im schriftlichen Verfahren mit Schriftsatzfrist bis zum 05.05.2022

durch den Präsidenten des Landgerichts …, den Richter am Landgericht … und den Richter … 

für Recht erkannt: 

 

 

(Tenor):

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 28.10.2021 verkündete Urteil des Amtsgerichts Dortmund abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden gesamtschuldnerisch haftend verurteilt,

an die Klägerin 1.525,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22.03.2018 zu zahlen. 

Die Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten als Gesamtschuldner. 

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. 

 

 

Entscheidungsgründe (Fahrspurwechsel): 

I.

Auf eine Wiedergabe des Tatbestands wird gem. §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO verzichtet. 

II.

Die zulässige Berufung ist begründet.

Die Klägerin hat einen weiteren Schadensersatzanspruch in Höhe von 1.525,50 Euro gegen die Beklagten aus § 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG i. V. m.. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, S. 4 VVG. 

 

1. (Beim Betrieb des Kraftfahrzeugs – Fahrspurwechsel): 

Der Unfall ist bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs der Klägerin und des bei der Beklagten zu 3) versicherten und von der Beklagten zu 1) geführten Kraftfahrzeugs der Beklagten zu 2) entstanden. 

 

(Keine höhere Gewalt – Fahrspurwechsel): 

Er ist weder auf höhere Gewalt zurückzuführen (§ 7 Abs. 2 StVG) noch stellt er für einen der Beteiligten ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG dar. 

(Kein unabwendbares Ereignis – Fahrspurwechsel): 

Unabwendbar ist ein Ereignis, wenn es auch durch äußerst mögliche Sorgfalt nicht abgewendet werden kann. Dazu gehört sachgemäßes, geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinaus, also die Berücksichtigung aller möglichen Gefahrenmomente. Bei Anwendung jeder nach den Umständen des Falls gebotenen Sorgfalt hätten beide Unfallbeteiligte das jeweils andere Fahrzeug rechtzeitig bemerkt, ausreichenden Abstand gehalten und die Kollision verhindert.

Die Ersatzpflicht hängt damit nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Beteiligten verursacht worden ist. Bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren nur unstreitige bzw. zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen (vgl. KG NZV 1999, S. 512 m. w. N.; NZV 2003, S. 291). Jede Seite hat dabei die Umstände zu beweisen, die der anderen zum Verschulden gereichen und aus denen sie für die nach § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will (BGH NZV 1996, S. 231). 

 

2. (Beweis des ersten Anscheins – Fahrspurwechsel): 

Unter Abwägung der gegenseitigen – im vorliegenden Fall grundsätzlich gleichen – Betriebsgefahren und der zu berücksichtigenden Verursachungsbeiträge überwiegt das Verschulden der Beklagtenseite. 

Der Beklagten zu 1) fällt ein Verstoß gegen § 7 Abs. 5 S. 1 StVO zur Last. Danach darf in allen Fällen ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. 

Kommt es zwischen einem den Fahrstreifen wechselnden Kraftfahrzeug und einem anderen Verkehrsteilnehmer zu einem Unfall, spricht angesichts dieser Pflicht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des den Fahrstreifen wechselnden Verkehrsteilnehmers (vgl. KG Urt. v. 10.2.2021 – 25 U 160/19, BeckRS 2021, 3685, beck-online). Es ist zwischen den Parteien unstreitig, dass sich der Unfall in unmittelbar zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel der Beklagten zu 1) ereignete. 

Diesen, zu Gunsten der Klägerin streitenden Anscheinsbeweis konnten die Beklagte nicht entkräften. Denn ein demgegenüber auf Seiten der Klägerin in die Abwägung einzustellender Sorgfaltsverstoß ist nicht zugestanden oder unstreitig und konnte im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme auch nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden. Weder nach Anhörung der Parteien noch auf Grund des eingeholten Sachverständigengutachtens lässt sich eindeutig feststellen, ob die Klägerin bereits auf der mittleren Spur fuhr, als die Beklagte den Fahrstreifen wechselte, oder ob die Klägerin selbst erst von der linken Spur kommend auf den mittleren Streifen wechselte. 

Die Kammer sieht sich in Ermangelung entsprechender Anhaltspunkte auch nicht veranlasst, an diesem Beweisergebnis zu zweifeln. Auf die Vernehmung der Zeugin …. haben die Beklagten verzichtet.

In der Abwägung des festgestellten Fehlverhaltens der Beklagten zu 2) mit der allgemeinen Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin ist mithin eine alleinige Haftung der Beklagten gerechtfertigt. Bei einem Unfall im Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel ist wegen der hohen Sorgfaltsanforderung des § 7 Abs. 5 S. 1 StVO grundsätzlich von einer vollen Haftung des den Fahrstreifen wechselnden Fahrzeugs auszugehen, sofern nicht ein Mitverschulden der anderen Unfallbeteiligten bewiesen wird (vgl. KG Urt. v. 10.2.2021 – 25 U 160/19, a. a. O).). Von dieser grundsätzlichen Haftungsverteilung abzuweichen, besteht aus Sicht der Kammer – insbesondere in Ermangelung eines feststellbaren Sorgfaltsverstoßes der Klägerin – keine Veranlassung. 

 

3. (100 % Haftungsquote – Fahrspurwechsel): 

Die Klägerin kann demnach den ihr entstandenen Schaden vollumfänglich von den Beklagten ersetzt verlangen. Mit der Berufung macht die Klägerin angesichts der von der Beklagten zu 3) unter Berücksichtigung einer Haftungsquote von 50 % insoweit gezahlten Summe in Höhe von 1.525,50 Euro weitere 1.525,50 Euro geltend. Die zu Grunde liegenden Schäden sind unstreitig. An der Angemessenheit der geltend gemachten Kosten für das eingeholte Sachverständigengutachten hat die Kammer keine durchgreifenden Zweifel. Diese bewegen sich im Rahmen des auf Grundlage der BVSK-Honorarbefragung 2018 bestehenden Honorarkorridors sowie den Nebenkostensätzen des JVEG. Die Frage der Ersatzfähigkeit der Restwertermittlungskosten kann hier dahinstehen, da diese offenkundig aus den Sachverständigenkosten herausgerechnet wurden und insoweit nicht geltend gemacht werden. 

Der Zinsanspruch ist aus Verzugsgesichtspunkten gemäß §§ 286, 288 Abs. 1, Abs. 2 BGB seit dem 22.03.2018 begründet. 

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. 

III.

Der Streitwert wird für die Berufung auf 1.525,50 Euro festgesetzt.